Wald und Wild in bewegten Zeiten
Zur Situation im Westerzgebirge
Das Westerzgebirge ist die waldreichste Landschaft Sachsens. Dabei sind insbesondere die höheren Lagen fast ausschließlich im Landeseigentum. Viele Wälder waren zu Wendezeiten in einem katastrophalen Zustand, unter anderem deshalb, weil große Teile zu DDR-Zeiten Wildforschungsgebiet waren mit am Ende völlig überhöhten Rotwildbeständen und damit einhergehenden gravierenden Waldschäden. Zwar dominieren immer noch Monokulturen, aber bei genauerem Hinsehen sehen die Wälder in vielen Gebieten schon erheblich vielfältiger und artenreicher aus als zu Wendezeiten. Sachsenforst ist es in den vergangenen drei Jahrzehnten erfolgreich gelungen, den Umbau der Wälder bzw. Forsten hin zu naturnäheren Formen weit voranzubringen. Es wird auch viel in Richtung Biotop- und Artenschutz (Moorrenaturierung, Kreuzotter, Amphibien, Fledermäuse usw.) getan. All dies verdient Anerkennung.
Auf den ersten Blick könnte man also annehmen, in den westerzgebirgischen Wäldern wäre alles in Ordnung. Aber dem ist leider nicht so.
Sachsenforst favorisiert den integrativen Waldbau, oft auch als naturgemäßer Waldbau bezeichnet. Das Ziel ist ein möglichst flächendeckender Hochwald mit strukturreichem Unterwuchs und weitgehend geschlossenem Kronendach, ein gemischter Wald mit möglichst vielen der am jeweiligen Standort natürlich vorkommenden Baumarten. Auch aus Sicht des NABU Aue-Schwarzenberg entspricht das gegenwärtig den Vorstellungen vom Wald der Zukunft mit seinen vielfältigen Funktionen, wie Erhalt der biologischen Vielfalt, Klimaschutz, Bodenschutz, Wasserrückhaltung, stabiles Ökosystem, Erholungsraum und Holzgewinnung, recht gut, wenn dabei ausreichend viele alte Bäume, Habitatbäume sowie liegendes und stehendes Totholz erhalten bleiben.
Allerdings scheint dieses Waldbaumodell für Sachsenforst die Lösung für alle Probleme des Ökosystems Wald und der biologischen Vielfalt zu sein. Diese Ansicht teilt der NABU Aue-Schwarzenberg nicht. Und so gibt es Differenzen, wenn bestimmte Anforderungen und Notwendigkeiten zum Erhalt der biologischen Vielfalt mit den Waldbauzielen von Sachsenforst kollidieren. An drei Beispielen soll dies gezeigt werden.
Problem Birkhuhn
Deutlich wird dies beim Birkhuhn, einer in Deutschland vom Aussterben bedrohten Art, für deren Erhalt die Population im Erzgebirge beiderseits der Landesgrenze zu Tschechien als größte Mittelgebirgspopulation Europas von außerordentlicher Wichtigkeit ist. Trotz dieser unumstrittenen Tatsache, die uns gemäß EU-Recht sogar zum Handeln zwingt, hat sich Sachsen jahrelang gegen ein Artenschutzprogramm gesträubt.
Jetzt, da es ein solches gibt, wird versucht, die praktischen Schutzmaßnahmen – ausschließlich in europäischen Vogelschutzgebieten – auf Sparflamme zu halten, weil dieses aus Sicht von Sachsenforst ein Arbeiten gegen die Natur darstellt, anderen Arten den Lebensraum entzieht und angeblich das Birkhuhn eigentlich nicht in die Region gehört. Dies ist eine einseitige und angesichts der aktuellen Bestandentwicklungen (im Westerzgebirge 2019: vier balzende Hähne, 2020: zwei, 2021 ein balzender Hahn) wenig angebrachte Sichtweise, die den Tatsachen und Erfordernissen keinesfalls gerecht wird.
Problem Rothirsch/Schalenwild
Geht man von den offiziellen Verlautbarungen von Sachsenforst und seinen Revierförstern aus, ging es dem Rothirsch im Erzgebirge (oder auch dem Schalenwild allgemein, wir beziehen uns hier hauptsächlich auf den Rothirsch) noch nie so gut wie heute und sie bemühen sich redlich, ihm das Paradies auf Erden zu schaffen. Jedenfalls scheint dieser Eindruck bei geführten Exkursionen durch das Westerzgebirge zu entstehen (siehe Link am Ende des Beitrags). Das verwundert keineswegs, denn es stimmt natürlich, dass in einem artenreichen Mischwald die Nahrungsbedingungen für das Schalenwild erheblich besser sind als in Fichtenstangenhölzern. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass sich aus dem Bild der Wälder zwar einiges über die Pflanzengesellschaft Wald und den Fortschritt beim Waldumbau erkennen lässt, das Geschehen im Hintergrund aber weitgehend im Dunkeln bleibt. Und dieses Geschehen wirft aus Sicht des NABU Aue-Schwarzenberg durchaus Fragen auf.
Diese prächtigen Waldbilder gehen nämlich einher mit einer sehr intensiven Bejagung, die dazu geführt hat, dass aus dem Rothirsch und den anderen Schalenwildarten völlig scheue, weitgehend unsichtbare und im Verborgenen lebende Geschöpfe geworden sind. Nun stehen aber eine art- und tiergerechte Lebensweise und das Sichtbarwerden für den Menschen bei bestimmten Wildtierarten in einem sehr engen Zusammenhang und bestimmte Defizite sind gerade daran sehr gut erkennbar. Und so ist das auch beim Rothirsch, dem größten bei uns noch vorkommenden Pflanzenfresser und von Haus aus einer Art des Offen- und Halboffenlandes. Als Mischäser liebt er Kräuter und Gräser und nutzt das Offenland. Er hält sich nicht zum Vergnügen fast ausschließlich im Wald auf, sondern weil er weiß, was ihn erwartet, wenn er sich aus der Deckung wagt.
Keiner unterstellt Sachsenforst, dass man den Rothirsch ausrotten will und keiner behauptet, dass es ihn nicht mehr gibt. Aber das reine Überleben einer Art kann in Zeiten, in denen der Tierschutz im Grundgesetz verankert ist, nicht ernstlich als alleiniger Maßstab gelten, sondern jagdbare Wildtiere müssen auch art- und tiergerecht leben und sterben dürfen. Es müssen eine natürliche Altersstruktur und ein artgerechtes Sozialleben vorliegen. Außerdem ist eine ausreichende genetische Vielfalt innerhalb und der Austausch zwischen den Populationen erforderlich, wenn das Anpassungsvermögen und die Überlebensfähigkeit unter sich ständig wandelnden Umweltbedingungen langfristig gewährleistet sein soll. Allein die bloße Existenz einer Art hat also wenig mit Biodiversität zu tun. Es ist aus Sicht des NABU Aue-Schwarzenberg mehr als fraglich, ob dies – bis auf die beiden letztgenannten Punkte – im Westerzgebirge der Fall ist.
Ein weiterer Beleg für die Defizite sind die Abschussstatistiken der letzten Jahre, die eine katastrophale Altersstruktur zeigen, weil kaum noch ältere Tiere darin auftauchen. Bedauerlicherweise darf der Rothirsch in Deutschland nur auf ca. einem Drittel seines potenziellen Verbreitungsgebietes leben, im Offenland so gut wie gar nicht mehr, auch in Sachsen. Leider ist es schon eine Art Selbstverständlichkeit, dass der Rothirsch im Erzgebirge bis auf einige Splittergruppen nur noch in Kammnähe lebt. Das hat zumindest den Effekt, dass aufgrund der Grenznähe vermutlich keine Gefährdung der genetischen Vielfalt – wie beispielsweise in Hessen, wo dies wissenschaftlich nachgewiesen wurde – zu befürchten ist. Es ist aber gut möglich, dass wir auch beim Rotwild schon „am böhmischen Tropf“ hängen, wie das bei Arten wie dem Birkhuhn oder Wiesenbrütern wie Bekassine, Braunkehlchen und Wiesenpieper noch viel gravierender der Fall ist.
Hinzu kommt ein außerordentlich wichtiger Aspekt, vielleicht der bedeutendste, zumindest aus Sicht des Naturschutzes. Auch Sachsen spielt angesichts der klimatischen Veränderungen und zunehmenden Schäden die Rolle des Rotwildes und des gesamten Schalenwildes im Ökosystem bedenklich herab, sieht Rothirsch, Reh und Co. sehr einseitig eher als Schadensverursacher und Hemmnis beim Waldumbau und nicht mehr als festen, wertvollen und unverzichtbaren Bestandteil der Landschaft. Sie erfüllen nämlich in Wald und Flur vielfältige Funktionen, verbreiten Samen und schaffen wichtige Biotopstrukturen, auf die viele andere Tiere angewiesen sind. Ihr Dung und ihre Kadaver sind Lebensgrundlage vieler Arten und sie sind die wichtigsten Beutetiere der in Ausbreitung befindlichen großen Raubtiere Wolf und Luchs. Aus all diesen Gründen ist Schalenwild in ökosystemrelevanter Dichte von enormer Bedeutung. Man kann das jagdbare Wild nicht auf eine unbestimmte Zeit – bis zum Abschluss des Umbaus der Wälder, wann immer das auch sein mag? – aus durchaus anzweifelbaren Gründen aus dem „System“ heraus oder fast herausnehmen. Das hat mit natürlichen Bedingungen und einem naturgemäßen Anspruch wenig zu tun.
Die Auswirkungen der Eingriffe in die Populationen von Rothirsch, Reh und Co. müssen nach Ansicht des NABU Aue-Schwarzenberg also differenzierter betrachtet werden als bisher. Der derzeit übliche, rein wilddichteorientierte Ansatz entspricht nicht mehr dem Stand des Wissens. Offensichtlich führt die schon viele Jahre und bis heute übliche Praxis, möglichst lange und möglichst viel zu schießen, nicht zu den gewünschten Erfolgen. Es braucht Veränderungen. Dabei müssen solche von der Wildbiologie vorgeschlagenen und in Beispielprojekten erfolgreich angewandten Strategien wie Verkürzung der Jagdzeiten, Intervallbejagung, Schwerpunktbejagung, Wildruhezonen, Unterlassung der Jagd in den Übergangsbereichen zum Offenland etc. erheblich mehr zum Einsatz kommen als bisher.
Viele weitere Gesichtspunkte wie die Nutzbarkeit des Offenlandes und die Freizeitaktivitäten spielen beim Thema Wald und Wild eine gewichtige Rolle. Dazu sei auf die als Download verfügbare PDF verwiesen.
Problem Naturwälder
Die durchschnittliche Umtriebszeit deutscher Wirtschaftswälder liegt gemäß der letzten Bundeswaldinventur bei 76 Jahren. Das führt dazu, dass vor allem die späten Phasen der Waldentwicklung in unseren Wäldern gar nicht mehr vorkommen, wobei sich gerade diese durch die größte biologische Vielfalt hervorheben. Dieses Manko haftet auch dem integrativen Waldbau an. Nicht unwesentlich in Zeiten der Klimaveränderungen ist sicher auch, dass nicht bewirtschaftete Wälder mehr Kohlenstoff speichern als genutzte Wälder.
Schon diese beiden Gründe sollten genügen, um die Notwendigkeit von Naturwäldern ausreichend deutlich zu machen. Trotzdem scheint Sachsenforst nicht sonderlich angetan von dem Gedanken, Teile der Wälder aus der Nutzung zu nehmen und auf das Holz dort zu verzichten. Bisher hält man sich jedenfalls mit der Ausweisung von Naturwäldern, also Naturwaldzellen oder Totalreservaten in Schutzgebieten, zurück. Obwohl Sachsen eine Waldfläche von ca. 5.280 Quadratkilometern hat und davon ca. 2.367 Quadratkilometer Staatswälder sind, nehmen Naturwälder lediglich eine Fläche von 137,35 Quadratkilometern ein. Damit wäre das anvisierte Ziel (siehe unten) erst zu knapp 40 Prozent erreicht.
Die derzeit acht Naturwaldzellen in Sachsen haben eine Gesamtfläche von 303 Hektar. Das sind 0,06 Prozent der Waldfläche und damit der niedrigste Flächenanteil bundesweit. Nur zwei gibt es im Westerzgebirge mit einer Gesamtgröße von 72,9 Hektar. Die wenigen Totalreservate befinden sich innerhalb der Naturschutzgebiete im Kranichseegebiet; es handelt sich dabei vorwiegend um Hochmoore, die für die Forstwirtschaft ohnehin eine untergeordnete Rolle spielen. Es besteht also merklicher Nachholbedarf.
Im aktuellen Koalitionsvertrag für 2019 bis 2024 findet sich das Ziel, bis Ende 2022 zehn Prozent der Flächen des Staatswaldes aus der wirtschaftlichen Nutzung zu nehmen. Man darf gespannt sein, ob es dem Freistaat wirklich ernst damit ist, seiner Vorbildfunktion gerecht zu werden und in welcher Form das selbst gesteckte Ziel erreicht werden soll. NABU Sachsen und BUND Sachsen haben dazu 2019 eine „Wildnisstudie Sachsen“ vorgelegt und geeignete Gebiete benannt, im Westerzgebirge das Kranichseegebiet und den Hartmannsdorfer Forst. Vorschläge liegen also auf dem Tisch – viel Zeit bleibt nicht mehr.
August 2021
Matthias Scheffler, NABU Aue-Schwarzenberg
Eine umfangreiche Darstellung der Thematik Wald und Wild findet sich in Ausgabe 1/2021 der Zeitschrift „Lebendige Vielfalt im Westerzgebirge“.
Link zum Exkursionsbericht: Rotwildstreit im Erzgebirge: Waldschutz ist auch Tierschutz